Russland und LGBT, die «NachDenkSeiten» und meine Fragezeichen

Vor ein paar Tagen habe ich via hab queer bern ein Mail erhalten, das mich seither sehr beschäftigt. C.K. (nicht nur der Name ist mir bekannt) schreibt: «Ich war diesen Frühling in Russland und kann bestätigen, dass die Schwierigkeiten der LGBT vornehmlich im Privaten liegen, so wie das bei uns vor 50 Jahren und zum Teil heute auch noch der Fall ist». Die Menschen in Russland seien freundlich und brauchen weder «eine von der amerikanischen Finanzmacht gesteuerte Scheindemokratie noch deren Bomben». Mein erstes Fragezeichen!

In der LGBT-Bewegung werde Amerika «als Unterstützer der hehren westlichen Werte verklärt», notiert C.K. weiter: «Das ist ziemlich blauäugig und zynisch, ging es doch den angloamerikanischen Machteliten nie um Demokratie, Gerechtigkeit und Sicherheit für alle, sondern nur um die Freiheit einer kleinen Elite, grenzenlosen Profit machen zu können». Gleichzeitig lese ich auf Queer.de unter der Überschrift «Trump-Regierung unterhöhlt LGBT-Rechte weltweit», dass bei vielen LGBT-Aktivist*innen die Alarmglocken schrillen. Grund: Eine «Kommission für unveräusserliche Rechte» soll die Rolle der Menschenrechte untersuchen und Änderungsvorschläge vorlegen. Stutzig macht die Zusammensetzung der neuen Kommission, fallen doch sieben der zehn Mitglieder regelmässig durch homo- und transfeindliche Äusserungen auf. Viele Menschenrechtler*innen fürchten nun, dass die US-Regierung die Rechtsentwicklung zurückdrehen möchte – nicht nur bei den erst seit kurzem etablierten Rechte für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten.

C.K. schreibt: «Wenn die LGBT-Gemeinschaft also Aussenseiter, Flüchtlinge und LGBT unterstützen will, wenn sie eine Welt ohne Krieg und eine lebenswerte Zukunft für alle möchte, sollte sie die amerikanischen kapitalistischen imperialen Methoden anprangern, statt sich von den USA instrumentalisieren lassen». Lassen wir uns tatsächlich von den USA instrumentalisieren, wenn wir hier in der Schweiz (auch) die Situation von queeren Menschen in Russland anprangern? Anprangern, dass das im Juli 2013 in Russland eingeführte Gesetz, das jegliche positive Äusserung über Homosexualität in Anwesenheit minderjähriger Personen unter Strafe stellt, die Situation von LGBT von Jahr zu Jahr verschlechtert.

Zusammen mit dem Mail schickte uns C.K. auch einen von den «NachDenkSeiten» veröffentlichten Text vom 4. Juli mit der Überschrift «Putin und die Homosexuellen – eine merkwürdig verschoben geführte Diskussion». Ausgangspunkt des Artikels ist eine Meldung vom 26. Juni der russischen Nachrichtenplattform Lenta.ru mit dem Titel «In Russland wurde begonnen, offene Homophobie mit Geldstrafe zu ahnden». Ein Mann wurde wegen einem homophoben Kommentar zu einer Geldstrafe verurteilt. Fast gleichzeitig berichtete Ria Novosti, der russische Präsident Putin habe in einem Interview mit der Financial Times gesagt «Gott möge LGBT-Menschen Gesundheit schenken», jeder Mensch möge doch leben, wie er es für richtig hält, niemand habe in Russland «etwas gegen sexuelle Minderheiten», allerdings dürfe man «Werte wie Tradition und Familie nicht vergessen». Mein zweites Fragezeichen!

Ich habe Konstantin Sherstyuk von Quarteera e.V. – der Verein vernetzt russischsprechende Queers in Deutschland – um eine Einschätzung des Artikels der «NachDenkSeiten» aus seiner Sicht gebeten. Seine Antwort ist klar: «Putin wird hier als Kämpfer für Toleranz dargestellt». Doch in beiden erwähnten Interviews sage er, «dass Schwule die russischen Kinder in Ruhe lassen sollen». Und statt «Transgender» sage er «Transformer» – und meine damit, «dass die LGBT-Community zu aggressiv sei».

Die Sache mit dem Jugendschutz

Es gebe in Russland, schreiben die «NachDenkSeiten», «einiges nicht, was es in der EU gibt»: «Es gibt das Institut der gleichgeschlechtlichen Ehe nicht und Gay Prides sind verboten. Es gibt im Rahmen des Jugendschutzes das Verbot, Jugendlichen Pornographie, Prostitution und eben auch Informationen zugänglich zu machen, die homosexuelle Beziehungen gleichwertig zu heterosexuellen darstellen.» Man könne sicherlich darüber streiten, wie sinnvoll diese sind, aber es gelte «bei diesem Streit die Verhältnismässigkeit zu beachten», denn Homosexualität stehe in Russland nicht unter Strafe: «Es gibt darüber hinaus eine queere Infrastruktur aus Bars, Clubs, Vereinen und Gruppen, die weitgehend unbehelligt von staatlichen Eingriffen und Kontrollen existiert». Ein staatlicher Eingriff finde nur dann statt, wenn die Organisationen aus dem Ausland finanziert werden. Dann müssten sie sich als «Ausländischer Agent» registrieren und die Finanzierung offen legen. Mein drittes Fragezeichen!

Es gebe «keine Möglichkeiten» eine Finanzierung im Inland zu finden – insbesondere von staatlicher Seite, kommentiert Konstantin Sherstyuk diesen Abschnitt des Artikels: «Hingegen werden einige homophobe Organisationen, wie die ‹Nachtwölfe› aus der Staatskasse finanziert». Die «Nachtwölfe» sind ein nationalistischer und christlich-orthodoxer Motorradclub, der vom Kreml finanziell unterstützt wird, um russischen Regierungsvertretern Personenschutz zu bieten. Bekannt wurde die Truppe unter anderem mit Aussagen wie: «Wir müssen den gesamten Feminismus und die Homosexualität mit heissem Stahl aus unserem orthodox-christlichen Land herausbrennen».

Das Verbot von Gay Prides habe weniger mit Homophobie zu tun als mit der Angst Russlands vor von aussen initiierten «Farbrevolutionen», schreiben die «NachDenkSeiten» weiter. Gemäss Wikipedia werden als «Farbrevolutionen» unbewaffnete, meist friedliche, jedoch nicht immer gewaltfreie Regimewechsel bezeichnet. Initiatoren dieser «Revolutionen» sind zumeist Studenten, insbesondere solche die ihre Studienzeit teilweise oder vollständig im westlichen Ausland verbracht haben. Als «Farbrevolutionen gelten unter anderem die Revolutionen in Georgien, der Ukraine und im Libanon. Und die Furcht davor sei berechtigt, «denn die LGBT-Vereinigungen, die in Russland am aggressivsten auftreten, werden alle aus dem Ausland gefördert und unterstützt», sind sich die «NachDenkSeiten» sicher. So fördere der deutsche Lesben- und Schwulenverband das LGBT-Netzwerk in Sankt Petersburg, «das mit illegalen Aktionen in regelmässigen Abständen bereitwillig die Bilder produziert, die der deutsche Mainstream so liebt: russische Polizisten, die Demonstranten abführen». Mein viertes Fragezeichen!

Das sei absurd, meint Konstantin Sherstyuk dazu: «Nicht die Aktionen sind illegal, sondern die Handlungen der Regierung, die keine solchen Aktionen erlaubt». Zudem stehe im Artikel 31 der russischen Verfassung, dass sich alle friedlich und ohne Waffen versammeln dürfen. Hier verletzte also, ergänzt der Aktivist von Quarteera, der russische Staat klar das mit der Verfassung garantierte Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. 

In einem Punkt kann ich den «NachDenkSeiten» allerdings zustimmen: «Geburt und familiärer Hintergrund bestimmen in hohem Ausmass die weitere individuelle Entwicklung. Für die so Diskriminierten gibt es weder Paraden noch nehmen sich politisch engagierte Pop-Stars ihrer an. Sie liegt so offen vor uns, ist so selbstverständlich und alltäglich, dass wir sie beständig übersehen, es ist darüber hinaus auch nicht chic, sich damit auseinanderzusetzen, denn es ist nicht schön bunt, sondern ziemlich grau und deprimierend, was hier passiert.» Es könne auch sein, dass «die medialen Attacken gegen Russland» immer auch der Versuch sind, die «hiesigen Formen der Diskriminierung und Stigmatisierung im Unbewussten und Ungenannten zu halten».

Zusammengefasst wollen uns wohl die «NachDenkSeiten» damit sagen, dass mit dem Verweis auf Diskriminierung «dort» verdeckt wird, wie sehr «hier» diskriminiert wird.

An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass der Kampf um die Rechte von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten vor 50 Jahren begann. In New York an der Christopher Street wehrten sich erstmals queere Menschen gegen die Unterdrückung durch die Staatsmacht. Nach mehrtägigen Strassenschlachten waren wir endlich «out and proud» und laut. Diese regenbogenfarbige Revolution vor 50 Jahren erreichte auch andere Länder – auch die Schweiz und auch wir feiern seither jährlich im Juni den Christopher Street Day (oder eben die Pride). Mit diesem Hintergrund irritiert mich die Aussage «man könne als Homosexueller in Russland gut leben». Auch die Aussage, im Iran sei es bestens, es gebe «GayRomeo» und Schwule könnten sich doch zuhause oder im Hotel treffen, ist doch äusserst zynisch. Immerhin sieht das iranische Strafrecht für homosexuelle Handlungen die Todesstrafe vor.

In seinem Mail stellt sich C.K. sich und uns die Frage, weshalb wir heute anderen Ländern nicht die Zeit geben, welche sie für ihre Entwicklung benötigen: «Müssen in einer Demokratie gesellschaftliche Regeln nicht von der Mehrheit des Volkes gewollt werden?». Um aber ungerechte gesellschaftliche Regeln zu durchbrechen, braucht es manchmal eine Revolution – beispielsweise wie vor 50 Jahren eine regenbogenfarbige Revolution und anschliessend über viele Jahre hinweg einen politischen Kampf.